Samstag, 18. Juni 2022, Nahe-Zeitung, Seite 19

Astrid Schwickert und ihre Mutter Christel Bortscher stöbern in alten Kisten und Fotoalben. „Schön war die Zeit“, sagen sie. Foto: Andreas Nitsch
Ein Bild aus längst vergangenen Zeiten. Damals hieß die Fürst-Dominik-Straße noch Hauptstraße. Rechts sieht man eine Scheune, die später zu einem Wohnhaus samt Metzgerei ausgebaut wurde. Fotos: Archiv Bortscher/Schwickert

Gasthaus „Zum Alten Schloß“ in Sien hat 2015 zugemacht
Von Andreas Nitsch

Sien. Vier Gaststätten, in denen das Leben pulsierte – eine uriger als die andere –, gab es einst im beschaulichen Sien. Nach und nach aber machten die Lokale dicht – in den vergangenen vier, fünf Jahrzehnten keine Seltenheit im ländlichen Raum. Im letzten noch verbliebenen Siener Gasthaus – „Zum Alten Schloß“ in der Fürst-Dominik-Straße – wurde der Zapfhahn 2015 für immer nach oben gedreht.

Serie

Heute: Gasthaus „Zum Alten Schloß“ in Sien
Dieses Transparent hängt heute noch am Siener Schloss. Foto: Nitsch
Eine Serviette aus Zeiten, als Sien noch zum Kreis St. Wendel gehörte
Wette gewonnen: Das Auto passte tatsächlich ins Lokal.

Der Name kommt nicht von ungefähr. Bei dem Gebäude handelt es sich um ein 1770/71 erbautes ehemaliges Jagdschloss der Fürsten zu Salm-Kyrburg, heute ist es im Besitz der Grafen von Luxburg. Die ehemalige Wirtin Christel Bortscher und ihre Tochter Astrid Schwickert, die das Anwesen vor einigen Jahren verkauft haben, erinnern sich gern an liebe Gäste und rauschende Feste, an lange Nächte und längst zur Familie gehörende Mitarbeiter.

Kuriose Wette gewonnen
Christel Bortscher sitzt in ihrem Garten auf der Terrasse, durchforstet Kisten und Alben mit alten Fotos. Plötzlich lacht sie laut auf. In Händen hält sie eine Schwarz-Weiß-Aufnahme aus den 1940er-Jahren. Auf dem Bild zu sehen ist ein Auto, das halb in dem einst von ihr betrieben Lokal steht, mit der Schnauze nach draußen. Drumherum posieren gut gelaunt junge Leute. „Das war eine Wette“, erzählt die noch rüstige Seniorin und schmunzelt. Ein Onkel hatte behauptet, dass der Wagen in die Gaststube passt – trotz der fünf Stufen, die zuvor mit dem Auto bewältigt werden mussten. Seine Wette hat der Onkel gewonnen. Was der Wetteinsatz war, weiß Christel Bortscher indes nicht mehr.
Bilder wie dieses gibt es viele. Und zu jedem kann die erfahrene Gastronomin eine Geschichte erzählen. Mit ihrem Mann Hans-Josef Bortscher, den alle nur Nicke Jupp nannten – Nick hießen ihre Schwiegermutter und deren Geschwister –, übernahm sie den Gastronomiebetrieb mit integrierter Metzgerei Anfang der 1960er-Jahre. Im Lauf der Jahre haben sich viele Anekdoten angesammelt.

Modenschau vorm Schloss 2012 – natürlich mit Christel Bortscher
Die Gastronomen Christel und Hans-Josef Bortscher (Mitte) waren Kult in Sien. Willi Hassinger (links) und Wilfried Ermel feierten gern mit ihnen.

Spontan fällt Christel Bortscher ein wenn auch schreckliches Ereignis aus den 1970er-Jahren ein. Bei einem Brand in einer französischen Diskothek waren 146 überwiegend junge Menschen ums Leben gekommen. „Von Brandschutz hat damals noch kein Mensch gesprochen“, sagt sie. „Das wurde nach dieser Katastrophe allerdings schlagartig anders.“In all den Jahren zuvor war im Saal, der sich im ersten Stock des Schlosses befand, Kirmes gefeiert worden. Hunderte Menschen waren dort vergnügt, der Zugang erfolgte ausschließlich über eine enge Wendeltreppe. Im Ernstfall wäre diese Treppe zu einem tödlichen Nadelöhr geworden.
Also wurde nun überlegt, wie man die Gäste im Ernstfall evakuieren könnte. Leitern sollten außen an den Wänden aufgestellt werden, erschienen aber zu wackelig. Auch eine Rutsche, die vom obersten Stock hinüber zur benachbarten evangelischen Kirche gespannt werden sollte, wurde vorgeschlagen. Doch auch diese kongeniale Idee brachte es nicht zur Umsetzung. „Letztlich entschieden die Dorfoberen, auf einem Gemeindeareal unterhalb vom Friedhof ein Zelt aufzustellen und dort zu feiern“, berichtet die Ex-Wirtin. Erst viele Jahre später sollte die Kerb wieder ans Schloss zurückfinden.

Es muss in den 1970er- oder 1980er-Jahren gewesen sein, als sich die Dorfjugend noch regelmäßig vor dem Schloss getroffen hat.
Astrid (von links) und Fred Schwickert – hier mit ihren Bekannten Erwin und Susanne – haben ihr Lokal gern betrieben. Es war ihr Leben.

Ihre Tochter Astrid Schwickert hält stolz ein gerahmtes Bild in die Höhe. Sie hat das Lokal, in dem man immer auch hervorragend essen oder auch in einem der sieben Fremdenzimmer komfortabel übernachten konnte, Anfang der 1980er-Jahre mit ihrem Ehemann Fred Schwickert übernommen. In dem Bilderrahmen ist hinter Glas eine recht alte weiße Serviette aufbewahrt – ein schönes Erinnerungsstück. „Gasthaus und Metzgerei Johann Nick I.“ steht dort in schwarzer Schrift geschrieben – und die Ortsangabe „Sien, Kreis St. Wendel“. Lang ist es her, dass Sien zum saarländischen St. Wendel gehörte.

Insgesamt 211 Jahre ist das Lokal von der Familie betrieben worden – von vier Generationen. So jedenfalls war es auf einer Tafel zu lesen, die Astrid Schwickert und ihr Mann Fred Ende Juni 2015 vor dem Schloss aufgestellt haben. Nachdem sie das beliebte Lokal für immer geschlossen hatten, wollten sie sich auf diesem Weg bei Nachbarn und Gästen bedanken. „Danke Mama und Papa“ steht ganz unten, und das meint das Ehepaar Schwickert auch so. „Noch heute sind wir unseren Mitarbeiterinnen Manuela Ermel, Christine Neu, Waltraud Feistl und Jerry Driscoll, dem Mann für alle Fälle, ganz besonders dankbar. Das Quartett hat zur Familie gehört. Aber auch ohne all die anderen Mitarbeiter hätten wir den Laden niemals schmeißen können“, betont Astrid Schwickert. „Ganz wichtig war die eigene Familie, unter anderem mein Bruder Burkhard Bortscher und seine Frau“, sagt Astrid Schwickert. Und ohne die zahlreichen Stamm- und Übernachtungsgäste wäre der Betrieb des Lokals gar nicht so lange möglich gewesen.

Mit dieser Tafel bedankten sich die Wirtsleute 2015 bei ihren Gästen.
1987, als die Kerb beerdigt wurde: Astrid Schwickert mit Tobias Scheuring, Jürgen „Brida“ Schneider und Michael Jung in freudiger Erwartung

Straße für Kerb sperren lassen
Sie wird leicht melancholisch, als sie an die alten Zeiten denkt – etwa an das Jahr 2012, als sie bei der VG-Verwaltung in Herrstein vorstellig geworden ist, um einen Teil der Fürst-Dominik-Straße, die früher noch Hauptstraße hieß, absperren zu lassen. Schließlich wollte man in Sien zünftig Kerb feiern. Das war längst wieder am und im Schloss möglich. Gastronomin Astrid Schwickert war in dieser Hinsicht sehr spontan – und kreativ. In Zusammenarbeit mit dem Kirner Geschäftsmann Klaus Erwin Hien wurde eine Modenschau organisiert, bei der die Models – unter anderem natürlich Christel Bortscher – über die Fürst-Dominik-Straße flanierten. Zahlreiche Stände waren aufgebaut, sogar an ein Karussell für die Kinder war gedacht. Die Idee dazu war gerade einmal zehn Tage zuvor geboren worden. „Es war einfach klasse“, sagt Astrid Schwickert.
Aber irgendwann hat sich die ganze Geschichte nicht mehr gelohnt. „Am Wochenende haben wir mit fünf Personen geschuftet, so viel war los, aber unter der Woche haben wir draufgelegt“, sagt Astrid Schwickert. Und weil weder ihre Tochter noch ihre Nichte oder ihr Neffe Interesse daran hatten, die Gaststätte zu übernehmen, beschlossen Schwickerts, die letzte Runde auszugeben. Am 28. Juni 2015 war endgültig Schluss.
Mit einer großen Gartenparty verabschiedete sich die Familie Bortscher/Schwickert bei ihren langjährigen Gästen. Zu essen und zu trinken gab es reichlich, Christel Bortscher gab nur eine einzige Bedingung vor: „All die Jahre habe ich euch immer gern bedient, heute Abend aber müsst ihr euch selbst bedienen.“Die NZ sucht Zeitzeugen, historische Bilder und Anekdoten
Eine Serie wie „Letzte Runde“ lebt von den Menschen, die die darin enthaltenen Geschichten erzählen, sie lebt von historischen Bildern und Dokumenten, von Anekdoten und Zeitzeugen, die sich erinnern. Sie, liebe Leser, können hierbei gern mitwirken. Wenn Sie noch alte Aufnahmen, Schriftstücke, Urkunden oder Bierdeckel von ihrer Lieblingskneipe haben, über kleine Episoden, Skandälchen oder lustige Begebenheiten berichten können, melden Sie sich bei der NZ. Die Redaktion ist zu erreichen unter Tel. 0151/142 462 81 oder per E-Mail an idar-oberstein@rhein-zeitung.net, Stichwort „Letzte Runde“. ni